Charlotte Schönfeldt

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Kriegskinder und transgenerationale Verflechtungen

Aus: Schauspiel Essen: Programmheft zu: Lutz Hübner "Nachtgeschichte"  2009, S. 22-27.

Zunehmend wird in der Zeitgeschichtsforschung und in den verschiedensten Medien und Disziplinen zur deutschen Erinnerungskultur die Verflechtung und Verstrickung zwischen den Generationen thematisiert – offenbar geht es um eine lange nicht wahrgenommene indirekte, nicht bewusst regulierte transgenerationale Weitergabe von Erlebnissen und Gefühlsmustern.

Die Generation der Kriegskinder hat ihre Berufsphase, ihre Leistungsphase weitgehend beendet – und es können jetzt Erinnerungen hochkommen oder "eingefrorene Gefühle" auftauen oder der nicht geäußerte und daher "geronnene" Protest kann sich im Alter als Depression äußern oder aber somatisiert werden.

Erik H. Erikson beschreibt in seinem 1950 erschienenen bedeutenden Werk: "Kindheit und Gesellschaft" sehr eindrücklich die aufeinanderfolgenden Entwicklungsphasen des Menschen, und er betont, welche Bedeutung den krisenhaften Übergängen zwischen den einzelnen Phasen zukommt: Immer geht es um eine Entscheidung zwischen Fortschritt (Progression) und Rückschritt (Regression) und darum, neue Fähigkeiten zu fördern oder zu hemmen. In der Krise der Jugend geht es um die Identitätsbildung, und da werden alle bisherigen Errungenschaften wieder hinterfragt und müssen neu entschieden werden. Bei diesen Konflikten in den Übergangskrisen  ist nun die Ansatzstelle für die verschiedenen Erziehungsstile. wo die Beeinflussung so oder so sein kann: im positiven Fall sollen sie leiten, stützen, Ich-Werte stärken, Sicherheit geben und speziell Identität und Integrität in Aussicht stellen. Sie können aber auch die Kindheitskonflikte und die darin enthaltenen Gefühle, wie Angst, Aggression, Liebeswünsche unsinnig verstärken, manipulieren, missbrauchen oder unterdrücken.

Die Kriegskinder sind von Anbeginn so aufgewachsen, dass die emotionale Bindung nicht gefördert, vielmehr sogar verhindert wurde – das waren etwa die Erziehungsregeln einer Johanna Haarer, deren Buch "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" tausendfach in Schulungen der Nazis und auch nach dem Kriege (unter anderem Titel) weiter verwendet wurde. Die Kinder sollten möglichst gut funktionieren und viel leisten im Dienste des herrschenden Prinzips – und das war auch nach 1945 eben wieder das Zurechtkommen mit dem wirtschaftlichen und emotionalen Mangel und dem Leisten, damit man die Werte des nächsten Systems erreichen konnte.

Als Jugendliche haben die Kriegskinder die ihnen eigentlich zustehende Krise der Pubertät im Wesentlichen "ausfallen" lassen müssen. Sie erlebten Mütter, die vor und nach dem Kriegsende eine ganz neue Art von Stärke hatten entfalten müssen – und Väter, die verhungert, geknackst und offen oder indirekt depressiv aus dem Krieg gekommen waren und sich wieder offen oder indirekt um die dominante Rolle in der Familie bemühten. Wegen dieser Krise der Eltern stand also eine Krise der Jugendlichen bei der Kriegskindergeneration nicht zur Debatte: Sie musste darauf bedacht sein, dass die Eltern beieinander – in sich, miteinander und für sie – blieben.

Erst im Zuge der 68er- Bewegung hat ein Teil dieser Generation etwas von der kritischen Hinterfragung, die auch zu ihrer Jugend gehört hätte, nachholen können – ein anderer Teil, die Konservativeren, war darüber entsetzt und wehrte sich vehement gegen diese nachträgliche Hinterfragung. Ein Teil dieser Generation hat das offenbar in der NS-Erziehung zutiefst eingeprägte unkritische Funktionieren, Leisten und Anpassen beibehalten und an die Kinder weitergereicht – ein anderer Teil hat als Eltern das Verdrängte der eigenen Eltern eingekapselt an die nächste Generation weitergereicht (z.B. die Angst oder Verlassenheit, den emotionalen Mangel oder auch die Scham, verschiedene Tabus ...) oder an sie delegiert (die Sehnsucht nach Befreiung der Sexualität oder auch den Auftrag zum Widerstand). Dieser Modus ist erst  in den letzten Jahren und von nur wenigen Therapeuten beachtet worden, aber zunehmend in der  Literatur und in Filmen beleuchtet worden (z. B. Grass "Im Krebsgang", M. von Trotta "Die bleierne Zeit", "Rosenstraße", "Jahrestage").

Denn die unbewussten, nicht gefühlten und nicht benannten "Geschichten" der Kriegskinder (Leiden – Verlassenheiten – Gefühlsmuster) werden eben unterschwellig, unbewusst und instinktiv von deren Kindern aufgenommen, und  diese sind nicht in der Lage zu unterscheiden, was ihre eigenen und was die in der Tiefe verborgenen Gefühle, Regeln oder Ängste der Eltern sind, wie die neurobiologische Forschung heute nachweisen kann (s. das Buch von Joachim Bauer :"Warum ich fühle, was Du fühlst").

Es ist auffallend, dass dieses Thema der unbewussten Verstrickung der Generationen seit dem Krieg zuerst nicht von Wissenschaftlern, sondern von Künstlern wahrgenommen und verschiedenartig gestaltet wurde – so sind längst viele Denkanstöße gegeben und Fragestellungen formuliert worden, die dazu führen können, die Probleme überhaupt kommunizierbar zu machen.

Etwa 100 Jahre umfasst das soziale Gedächtnis einer Gesellschaft – und jede Generation muss neu hinterfragen, wohin welche Erfahrungen und Gefühle gehören, was besonders schwierig und belastend ist, wenn darüber geschwiegen worden ist. Wofür fühlen sich die Kriegskinder, deren Kinder und Enkel schuldig, wovor haben sie Angst und was müssen sie auf jeden Fall vermeiden?

Auch die Muster des Umgangs (der Verarbeitung) mit unangenehmen Erinnerungen und Gefühlen können weitergegeben werden: welche Muster haben  wir unbemerkt  übernommen und welche eben gerade nicht, bzw. welche Muster müssen wir uns bewusst machen, um für die eigenen Entscheidungen frei zu werden?

Der "Raum des Fühlens" ist in Familien und Beziehungen so lange verschlossen oder verboten gewesen – und so sind auch die Muster der Aus- und Umwege schließlich zu unseren noch nicht genug hinterfragten Gefühlserbschaften geworden, z.B.  der Umgang mit  der Angst vor Konflikt und Widerstand oder "Eigensinn", der Auftrag zum Funktionieren und Leisten, die Angst vor der Angst und vor der Trauer. Wie waren die Liebesmuster zwischen den Generationen: konnten die Eltern die Kinder um ihrer selbst willen lieben oder brauchten die Eltern die Liebe der Kinder? Und wie übertrug sich das auf deren Beziehungserleben in ihren Partnerschaften? Auch die Angst vor Nähe wurde zu einem festen Begriff in den letzten 20 Jahren – es geht dabei um das Unvermögen, eine Beziehung wechselseitig zu regulieren. Wie mag die Kette weitergehen, wenn wir nicht Sprache und Orientierung in diesen Gefühlsmustern und dem Umgang damit finden?

Es lohnt sich für die verschiedenen Generationen, die Erfahrungen zur Erinnerung und zur Sprache zu bringen – um zu verstehen und um sich darin orientieren zu können, um zu sortieren, was in welche Generation und Zeit gehört – und um sich aus den Verstrickungen zu lösen und zu einem Gefühl von Versöhnung zu kommen, das allen Generationen gut tut. Frei zu werden zum wachen Hören, Sehen, Fragen und Handeln in der Gegenwart, um nicht in der Anpassung verstrickt zu bleiben.

Ich finde das Thema besonders wichtig, da wir in einer Zeit leben, in der Ängste in Bezug auf die Zukunft unserer Kinder und Kindeskinder nur zu berechtigt sind. Die Zunahme fundamentalistischer Tendenzen und unerwachsener, regressiver Schutzmuster sowie die destruktive Seite der Globalisierung und damit die Angst vor einer uneinschätzbaren Zukunft  sind existentielle Themen all derer, die nicht wieder verdrängen wollen, wie es die Eltern der Kriegskinder taten.




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