Charlotte Schönfeldt

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Bindung und Beziehung statt Einsamkeit und Selbstentfremdung

Aus: Jahrbuch für psychohistorische Forschung 9 (2008), S. 189-192. Mattes Verlag Heidelberg

In den letzten 100 Jahren haben sich die technischen Erkenntnisse der Menschen gewaltig erweitert – sowohl in destruktive Richtung als auch in konstruktiv nutzbare Richtung.

In den letzten 100 Jahren haben aber auch die Menschen viele Erkenntnisse über die Seele gewonnen durch die Einbeziehung des Unbewussten in der Tiefenpsychologie, Erkenntnisse über die seelische Entwicklung der Kinder und Erkenntnisse über "den Seelenraum des Ungeborenen" (L. Janus 2000).

In den letzten 20 Jahren haben sich diese Erkenntnisse nun auch durch die neurobiologische Forschung bestätigt.

Wie wird sich die Beziehung zwischen beiden Erkenntnisbereichen über die menschliche Seele und über das technisch Mögliche gestalten? Wird der seelisch-geistige Erkenntnisbereich sich die Technik zur Hilfe nehmen und sie gebrauchen, wenn es nötig ist und Sinn macht? – Oder wird die technische Forschung die Menschen missbrauchen oder wird der technische "Fortschritt" sie sogar vernichten? Und wie wird sich dieses Kräftespiel auf die Generativität, auf Eltern und Kinder auswirken? Und wie wirkt es sich bereits jetzt aus?

Wir wissen auch, dass in eben diesen 100 Jahren politisch-ideologische Einflüsse gerade die frühe Bindung behindert bzw. verhindert haben – und wir wissen inzwischen auch viel über die Weitergabe der Wunden bzw. über die Abwehrmuster des Leidens, der unangenehmen Gefühle.

Zurzeit geht es bei den Fördermaßnahmen des Familienministeriums um die bindungsorientierte Frühförderung geschädigter Kinder aus den schwierigsten Familien. Das ist sicher sehr nötig und gut – aber wann und wer muss eigentlich zunächst gefördert, gefordert werden?

Wie steht es heute in unserer Zeit der Globalisierung mit der Generativität, mit Instinkt, Bindung, Mütterlichkeit und Väterlichkeit?

Einen wichtigen Anteil an der wahrzunehmenden Verunsicherung hat m. E. die Tatsache, dass die Zeit der Schwangerschaft heute weitestgehend von der Wissenschaft und den sie anwendenden MedizinerInnen „beherrscht“ wird: Die absolute medizinische Kontrolle mithilfe technischer Mittel führt dazu, dass werdende Mütter zu Patientinnen gemacht werden und sich auch als solche fühlen.

Sicherlich spielt hier eine Rolle, dass Schwangerschaften heute oft das Ergebnis diffiziler Entschlussprozesse in den Partnerschaften und fortgeschrittenen Berufskarrieren der Frauen sind und deshalb sehr "spät“ erfolgen (oder auch erst durch Implantation): Es sind dann also die sog. Spätgebärenden. Ängste, die von der vorigen Generation übernommen wurden, werden so verstärkt, funktionalisiert und führen zu einer willigen Unterwerfung unter die medizinischen Ratgeber. Hinzu kommt der Druck, den die Gesellschaft ausübt, indem sie Behinderungen, die sich durch Kontrollen angeblich vermeiden ließen, den Müttern anlastet, wenn sie die "pränatalen Selektionsverfahren" verweigern.

Die werdenden Mütter und das in ihnen wachsende neue Leben mit all den (inzwischen erkannten) neurobiologischen Wahrnehmungskompetenzen der Föten sind also einer absoluten medizinischen Kontrolle ausgesetzt. Aus stolzen, erfolgreichen, jetzt endlich ihre Weiblichkeit leben könnenden, kreierenden Frauen werden artige "Patientinnen", und die Liebesbeziehung des Paares kommt ins Wanken: Warum?

Es kann dazu kommen, dass viele Mütter und mit ihnen die Väter sich gar nicht ruhig auf das psychische Geschehen in der Schwangerschaft, in dem Übergang in eine neue Lebensphase auf die vielschichtigen, komplexen emotionalen Veränderungen einlassen und dieses als Erweiterung ihrer Beziehung erleben können.

Als problematisch erweist sich auch die Rolle der werdenden Väter, die weitgehend ja keine stabilen Vätervorbilder haben, sondern in ihrer Rolle verunsichert sind und ganz neue Männerbilder, Väterbilder bzw. Identitäten entwickeln müssen. So kann es oft sein, dass sie der medizinisch-technischen Instrumentalisierung gegenüber nicht hinterfragend, die Partnerinnen unterstützend, sondern erstaunlich positiv gegenüber stehen, da sie damit eigenen Gefühlsunsicherheiten ausweichen können. Die Rolle, die sie als „Beschützer“ und Partner spielen könnten, wird durch die einseitige Akzentuierung erschwert.

„Frühförderung“ kann nur sinnvoll erfolgen, wenn junge Menschen wirklich frühzeitig auf die spätere Rolle als Partner und als Mutter oder Vater vorbereitet werden; das wäre z. B. durch ganz gezielten Schulunterricht möglich, in dem Entwicklungspsychologie und Bindungs- und Beziehungsdynamik zum Grundkatalog gehören. Wenn sie dann Eltern werden, ist es allmählich notwendig, dass die Verantwortung für das werdende Leben von beiden Erzeugern übernommen werden kann; dabei ist es wichtig, der Sprache der neuen Gefühlswelten einen anerkannten und angemessenen Raum zu geben. Wenn wir so nah und innig die Angewiesenheit eines werdenden und dann neugeborenen Lebewesens erleben, können wir auch möglicherweise mit unseren eigenen „Nischen“ im Gehirn aus unserer eigenen frühesten Zeit, vielleicht mit unseren frühen Wunden und unerfüllten Sehnsüchten in unserer Tiefe in Berührung kommen, und es ist dann von so hohem Wert, zwischen unseren Bedürfnissen und denen des Kindes zu unterscheiden. Hierfür ist es am besten, sich vor der Geburt Zeit und Raum zu geben, um die eigene Erfahrung bewusst werden zu lassen und ihr Einfühlung, Zuwendung und Sprache zu geben, um nachher besser sortieren zu können. Dieser Prozess ist für Väter und Mütter sicher unterschiedlich, und es wird wichtig für die Beziehung sein, voneinander zu wissen. Viele junge Beziehungen zerbrechen nach der Geburt eines Kindes und könnten stattdessen an Tiefe und gegenseitigem Verstehen gewinnen.

Zusammenfassend möchte ich aufzeigen, was mir für die Förderung von Beziehung und frühester Bindung, die für unsere Gesellschaft und unser Zeitalter dringend nötig ist, als so wichtig erscheint:

1. Zunächst ein offen benannter Verzicht der Ärzteschaft auf ihre finanzielle und forschungsrelevante Herrschaft und Dominanz über die Generativität und stattdessen die Beschränkung auf ein der ärztlichen Ethik angemessenes Hinzukommen, wenn ihre medizinische Kompetenz nötig ist.

2. So weit wie möglich die Abgabe der Kompetenzen an die inzwischen bestens ausgebildeten Hebammen mit ihrer (möglichst auf viel eigener Selbsterfahrung basierenden) Kompetenz und einer angemessenen Beziehung zu den Eltern.

3. Die Verantwortung muss – mit allen neuen Erkenntnissen – zu den beiden Erzeugern zurückgegeben werden und bei denen in großem Maße und auf die verschiedensten Weisen gefördert werden. Damit sind nicht allein die Hebammen gefordert (weil u. U. damit überfordert), sondern verschiedene Maßnahmen einer unterstützenden "Präventionspädagogik" (diese Bezeichnung trifft die interdisziplinär zu vernetzende Komplexität ganz gut, denn auch bei einer Psychotherapie kann ein Kipppen der Paare (meist der Mütter) in die Patientenrolle erfolgen).

Präventive Elternschulung sollte möglich sein, wie sie z. B. in Italien bereits verbreitet ist: Paarkurse für beide Eltern, die sich nicht auf Geburtstechnika beschränken. Mir scheint zunächst so wichtig, der Sprache für neue Gefühlswelten einen angstfreien und zur Gewohnheit werdenden Raum zu geben, in dem nicht nur das Tolle und Effektive Platz hat.

4. Sehr wichtig sind aber auch die sozialen Absicherungen, um in diesem derzeit völlig pragmatisch bestimmten Bereich effektiv mit dem Thema "Angst" umzugehen – wieder eine große Aufgabe der Gesellschaft, denn mit Existenzängsten vermischt lassen sich die normalen, mehr oder weniger vorhandenen Ängste vor etwas noch nicht Erfahrenem zu leicht zu Forschungszwecken und ökonomischen Gewinnen der Arztpraxen instrumentalisieren.

5. Bereits in den Schulen sollten Entwicklungspsychologie und die Themen Beziehung und Bindung zum Grundkatalog des Unterrichts gehören. Wenn neuerdings ganz junge Paare Kinder zeugen, um aus der Leere einen Event zu machen, dann ist doch in der Schule das Thema der Förderung der Bindungsorientierung und Beziehungsdynamik, des Spracherwerbs für Gefühle bereits dringend notwendig – sie werden die nächste Generation von Eltern werden.

Unsere Zeit ist bei der jungen Generation geprägt von Medien und Bildermassen von außen; dies hat zu einer Armut an Symbolisierungsfähigkeit und inneren Repräsentanzen und Ritualen mit der Funktion von Übergangsobjekten geführt. So entsteht ein Symbolhunger und eine innere Leere – und damit eine emotionale Unersättlichkeit und das Bedürfnis nach ständiger Zufuhr – dafür werden Kinder in hohem Maße missbraucht – So kann später dann auch die entstehende frühe Bindung leicht als emotionale Nahrung für Mütter (besonders wenn sie alleinerziehend sind) aber auch für Väter dienen. Die Paarbeziehungen verhungern an Tiefe und gegenseitigem Verstehen und Bezogensein, an dem Fehlen der gegenseitigen Resonanz, und der Selbstwerdungsprozess des Kindes gerät aus dem Blickfeld.

Da also die Vater- und Mutter-Rollen nicht mehr oder noch nicht neu und klar definiert sind und auch die Existenzgrundlagen bei beiden Geschlechtern bedroht sind, genügt es nicht, die bereits geschädigten oder "verwirrten" Kinder zu fördern, sondern es ist dringend notwendig, früher anzufangen, bei den Eltern und zwar interdisziplinär unter Achtung und Herausforderung ihrer beiderseitig je eigenen Identität und ihrer väterlichen und mütterlichen Instinkte.

Ob die junge Generation diese Verantwortung wird übernehmen wollen – das wird sich dann zeigen, wenn wir es nur versuchen!

In Berlin haben wir inzwischen einen Versuch begonnen: http://www.netzwerk-elternwerden-elternsein.de.




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