Charlotte Schönfeldt

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Veröffentlichungen



Die Lösung aus einer Projektion

Aus: Internationale Zeitschrift für pränatale und perinatale Psychologie und Medizin 14,2002,S.139-142

Im Juni vor mehreren Jahren kam eine 35jährige Frau zu mir in Therapie und befand sich offensichtlich in einer großen Verunsicherung: "Mir gleitet der Boden unter den Füßen weg; meine Entscheidung, mich von meinem Mann zu trennen, kommt ins Wanken; mir ist bewußt, daß ich da etwas abrupt abschneide! Da muß wohl erst mal ganz viel aus mir raus."

Frau M. war aus A., wo sie mit ihrem Mann und zwei Kindern (8 und 6) lebte, nach B. (ca. 350 km entfernt) gekommen, um hier ein Fach zu studieren, das sie auch in A. hätte studieren können. Sie verdiente sich ihren Unterhalt durch Jobs neben dem Studium her. In C.(500 km von A. und B. entfernt) gab es noch einen Freund, der auch auf ihre Entscheidung wartete, von dem sie kein deutlicheres Bild vermittelte.

Ich erlebe eine Frau, die tief beunruhigt ist und nicht "klar sieht", worum es geht: "Immer in Krisen bekomme ich hohes Fieber und Sehstörungen; das fing mit 13 Jahren an".

Frau M. erfuhr mit 13 Jahren, als sie für die Schule gewisse Unterlagen brauchte, daß sie ein uneheliches Kind sei und daß der männliche Zwilling neben ihr im 5. Monat abgestorben sei. Die Mutter habe nach ihrer Geburt sofort wieder arbeiten müssen; deswegen war sie die beiden ersten Lebensjahre bei den Großeltern. Als sie zwei war, habe die Mutter geheiratet und sie zu sich genommen sie selbst war aber ganztags im Kindergarten: "Die Eltern gaben sich die Klinke in die Hand". Sie durfte zunächst nur die Volksschule besuchen, erarbeitete sich dann aber selbst in verschiedenen Bildungsstufen eine Beamtenlaufbahn und schließlich den Weg bis zur Fachhochschulreife.

Sie hatte sich das erstemal schon früh verlobt, diese Verlobung aber wieder gelöst. Mit 19 hat sie dann mit ihrem jetzigen Mann eine Beziehung begonnen (sie kannten sich schon, als sie 13 war). "Wir haben uns gegenseitig viel gestützt". Als Frau M. 25 war, hat das Paar geheiratet. Der Mann war freiberuflich tätig und hat u.a. alte Häuser restauriert, wobei Frau M. auch mit viel Freude und Engagement. soweit es neben ihrer Mutterrolle ging, mitgemanagt und daneben einen kleinen Ökoladen aufgebaut hat. Es sei dann so gewesen, daß der Mann sie sehr entwertet und klein gemacht habe in einer Zeit, wo sie sehr viel geleistet habe(Bauleitung, Körnerladen, Kinder), und er nach Hause kam und alles besser machen wollte. Dabei hätten sie vorher doch eine recht kooperative Zeit gehabt:"Vielleicht war ich zu gut? Das kann sein". "Es scheint, daß entweder nur ich oder nur er Selbstbewußtsein haben kann - da läuft ein seelischer Existenzkampf. Er muß sich wohl durch meine Stärke und Tüchtigkeit bedroht gefühlt haben und dann kränkend und verletzend geworden sein". Sie wiederum habe sich durch seine Verletzungen in ihrem eigenen Weg bedroht gefühlt. Andererseits habe sie es nicht geschafft, sich mit ihm effektiv auseinanderzusetzen.

Für mich ist diese Konfliktunfähigkeit unstimmig, da ich Frau M. als eine klar benennende, auch immer wieder protestierende, intelligente Frau erlebe. Befürchtet sie, ihn zu schädigen? Sie sagt von sich, daß sie bis vor kurzem auch noch die Nägel gekaut habe und große Probleme habe, sich gegen andere auf der symmetrischen Ebene durchzusetzen auf der anderen Seite mache sie dann aber oft abrupt Schluß und breche die Beziehung ab.

Obwohl von Anbeginn dieser Therapie deutlich war, daß es sich nur um eine kurze Wegstrecke handeln würde es waren dann insgesamt 12 Stunden, entschließe ich mich, die tiefere Ebene des Erlebens anzusprechen und Frau M. aufzufordern, auf ihre Träume zu horchen.

In der nächsten Stunde beginnt Frau M. dann auch, daß sie einige Träume habe, die immer wiederkehren, und erzählt einen Traum der letzten Woche: Sie kommt in ein Haus und will ins Obergeschoß in einen Unterricht. Es ist ein gläserner Fahrstuhl, mit dem sie hochfahren soll. Er hat aber kaputte Seile, zumindest eines. Es kommen da zwei Kinder in der Halle auf sie zugerannt. Der eine, ein Junge, hat eine Hose mit Hosenträgern, und sie zieht ihm spielerisch einen Träger herunter und damit die Hose aus, wie sie sagt, aus Ulk, spielerisch! Dann kommt seine Mutter und macht ihr Vorwürfe, daß der Junge ja behindert sei und die Hose nicht wieder hochziehen könne. Der Junge ist zunächst sehr schelmisch und ulkig mit ihrdann aber nicht mehr; nachher dreht er sich wieder um und zieht die Hose doch alleine hoch. Dann kommt eine andere Frau, sucht Unterrichtspapers, und Frau M. möchte ihr helfen. Sie öffnet eine alte Eichentür und sieht in ein Kellergewölbe hinunter, das kalt und bedrohlich ist. Sie schließt die Tür schnell wieder und geht voller Angst wieder zurück. Dann geht sie in einen Unterrichtsraum, wo zwei unangenehme Lehrerinnen sind, die Treppe hinauf, dann wieder in einen Unterrichtsraum, wo sie Angst vorm Lehrer hat, daß sie zu spät ist. Sie ist dann auf einer Wiese, wo ein Fest ist, trifft die andere Frau, die die Papers gefunden hat, und der Traum hört auf.

Die beiden wiederkehrenden Motive, so betont Frau M., seien der gläserne Fahrstuhl mit dem gerissenen Seil und das dunkle, bedrohliche, kalte Kellergewölbe. Zu der ärgerlichen Mutter und Lehrerin assoziiert sie ihre Mutter und den verbotenen Wunsch zu lernen. Immer wieder betont Frau M., daß die Sache mit dem Hosenträger doch nur ulkig, spielerisch gemeint sei und daß der Junge es ja auch gut wieder geschafft habe, sie hochzuziehen. Es wird ganz allmählich deutlich, daß es aus Angst vor Schuldgefühlen geschieht, daß Frau M. einen symmetrischen Streit vermeidet.

Sie erzählt mir dann in der nächsten Stunde, noch einmal den gläsernen Fahrstuhl erinnernd, daß sie selbst in der Frühe auch nur mühsam überlebt habe: sie sei zu früh geboren, habe viel zu wenig gewogen und sei zwei Monate im (gläsernen!) Brutkasten gewesen in der weit vom Wohnort der Mutter entfernten Klinik. "Wäre dieses Kind doch auch gestorben", so habe die Schwester der Mutter gesagt (was ihr wiederholt von der Mutter erzählt wurde).
Frau M. erzählt, daß sie ein ganz stilles, braves Kind gewesen sein soll, im Ställchen gesessen und Zeitungen zerrissen habe. Sie betont wieder, daß das bedrohliche Kellergewölbe ja zweimal im Traum vorgekommen sei, wie auch schon öfter in früheren Träumen. Mich weist sie damit auf ihre im Unbewußten bedrohliche frühe Todesangst hin, die noch nicht angeschaut, erleuchtet werden konnte.

In der 8. Stunde dann beginnt Frau M. mit einer Vielfalt von Hinterfragungen: ob die frühen Dinge wirklich so prägend seien, wozu denn das alles nütze, wie man damit weiterkomme und ob es hier nicht stagniere in der Therapie. Ich merke ihren Widerstand, ihre Angst und ermutige sie, auf ihren Instinkt zu horchen und zu schauen, in welcher Ebene sie klarer sehen will. Frau M. reagiert darauf spontan und entschieden, sie wolle in die Tiefe schauen,  und erzählt einen Traum, den sie im Leben schon oft und nach langer Pause in der vorigen Woche wieder geträumt habe: Sie liegt in einem kleinen Zimmer im Bett, und es ist sonst nichts außer dem Bett, ein Fenster und eine Tür. In die Tür kommt ein schwarz gekleideter Mann, wie japanische Krieger mit Masken und Kampfstöcken, und sie geht auf ihn zu. Er ist eigentlich stärker als sie, aber sie tötet ihn mit einem Messer und schafft ihn aus dem Fenster hinaus. Es ist ein lustvolles Kampfgefühl, ein Sich-eingestehen des Hasses, aber darunter auch die Todesangst. Einerseits sagt sie sich, daß es anders nicht gehen konnte und sie ihn erwartet hat und damit das Schuldgefühl, das in ihr aufkommt, beiseite tun kann andererseits fragt sie sich, ob es nicht auch anders hätte kommen können. Mußte es so sein?

Behutsam haben wir verschiedene Möglichkeiten des Traumverstehens ausprobiert- und nähern uns dann doch der Vorstellung, ob es um das Erleben im Mutterleib gehen könne: um ihre Angst- und Schuldphantasien im 5. Monat, als nicht beide Zwillinge überleben konnten??? Ging es damals um ihren Existenzkampf ("er oder ich"), als seine Nabelschnur abgerissen war?

Frau M. signalisiert, daß sie es zulassen kann, hinzuschauen und die zu phantasierenden Gefühle nachzufühlen. Sie spürt sich bis in die Zehenspitzen angerührt.

Nach ein paar Tagen berichtet Frau M., daß sie sich bemüht habe, meditativ mit dem Traum umzugehen, daß ihr das aber gar nicht gut bekäme. Mich verweist sie damit darauf, den Fokus der Projektion im Blickpunkt zu behalten. So können wir uns dann der Frage zuwenden, ob sich da etwas vernetze? Ob sich das frühe Erleben möglicherweise in ihr jetziges Erleben in ihrer ehelichen Beziehung mische? Ob sie sich vielleicht durch irreale Ängste und Schuldphantasien gehemmt fühle, den symmetrischen Konflikt immer da, wo er nötig sei, zu leben? Frau M. fühlt sich zunehmend befreit und erlöst so könnten ihre gegenwärtigen Konflikte doch ruhig mit klaren Augen angeschaut und durchgehalten werden, "spielerisch" natürlich!

Nach einer zweimonatigen Pause kam Frau M. noch dreimal und berichtete von dem Procedere ihrer Entscheidungen und meinte, daß es doch wohl sehr nützlich und hilfreich gewesen sei, in dieser Tiefe durch ihre Krise zu gehen, so daß sie in der griechischen Bedeutung des Wortes, wie sie sagt wirklich zu einer stimmigen Entscheidung kommen konnte.

Frau M. ging vor Weihnachten wieder nach A. zu Mann und Kindern und bemühte sich um die Fortsetzung ihres Studiums am Ort.

P.S : Die nachträgliche Vergewisserung und den wissenschaftlichen Horizont verdanke ich der Lektüre des Buches von Ludwig Janus "Wie die Seele entsteht" (darin besonders das Kapitel 7), das ich mit großem Gewinn gelesen habe.




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